30 Jahre Hal Hartley - Pionier des US-Independentkinos

Hal Hartley zählt bis heute zu den innovativsten und unerschütterlichsten Regisseuren, Drehbuchautoren, Produzenten und Komponisten des US-amerikanischen Independentkinos. Seine Filme widmen sich dem anderen Amerika - fernab des amerikanischen Traums. Bei ihm rücken rauchende Nichtstuer, ungestüme Rebellinnen, planlose Suchende und lethargisch wartende Charaktere in den Fokus und zeigen, dass auch mit beschränkten finanziellen Mitteln grosses Kino der anderen Art enstehen kann. Er verfeinerte über die Jahre hinweg einen zeitlos erfrischenden, rigorosen und unverkennbaren Stil und leistete damit eine grosse Pionierarbeit, der wir jüngste Werke des unabhängigen Filmschaffens aus den USA zu verdanken haben, wie zum Beispiel FRANCES HA (2012) von Noah Baumbach oder LADYBIRD von Greta Gerwig.

1989 schuf Hal Hartley mit seinem Debütfilm THE UNBELIEVABLE TRUTH einen Meilenstein des US-amerikanischen Independentkinos, deren Bewegung er in den Folgejahren als Schlüsselfigur entscheidend mitprägte und es an den renommiertesten Filmfestivals der Welt, wie in Cannes, Sundance oder an der Berlinale gefeiert und en vogue machte. Das 30-jährige Jubiläum nehmen wir zum Anlass, um 2019 eine Retrospektive zu organisieren und diesen wichtigen US-Filmemacher zu feiern und seine schönsten Filme zurück auf die grosse Leinwand zu holen.


Vorführungsorte Herbst 2019:
Filmpodium, Zürich
Cameo, Winterthur
Rex, Bern

THE UNBELIEVABLE TRUTH
Long Island, New York: Die bald 18-jährige College-Anwärterin Audrey sieht die Welt am Rande eines atomaren Kriegs und hört in ihrem Kopf Bomben vom Himmel fallen. Sie verliebt sich in Josh, einem doppelt so alten Mann in Schwarz, der frisch aus dem Gefängnis heimgekehrt ist. Er ist ein Abstinenzler mit Geschichte, was Eindruck hinter- und die Gerüchteküche im kleinbürgerlichen Vorort brodeln lässt. Ist er ein Priester, Massenmörder oder Profi-Automechaniker? Audrey verhilft Josh zu einem Job in der Werkstatt ihres Vaters Vic, der sich zwischen die sich anbandelnde Beziehung stellt. Audrey haut nach New York ab und wird Fotomodell – nicht nur für Unterwäsche. Der Debütfilm The Unbelievable Truth zeigt bereits Hartleys stilistische Markenzeichen, allen voran sein kluger, scharfer und witziger Dialog, der sich grundlegend als treibende Kraft durch seine Filme zieht.

“What Hartley is doing, however, is writing a film essay on conventions and cliches and middle-American movie characters. He establishes them as completely ordinary, and then he lets them wander off into the byways of their destinies. What makes the film fun is the deadpan, tongue-in-cheek humor that undermines the seemingly sincere dramatic scenes.“ (Roger Ebert)


AMATEUR
Wenn frau aus dem Kloster austritt, was tut sie als Erstes? Sie bietet sich als Autorin pornografischer Romane an. So auch Isabelle. All die Jahre der fleischlichen Abstinenz haben Isabelle zu einer jungfräulichen Nymphomanin gemacht. Als sie in einem schäbigen New Yorker Café ihrer neuen Berufung folgt, trifft sie auf einen jungen Mann mit Erinnerungsdefizit. Der letzte von Gott gesandte Auftrag scheint leibhaftig vor ihr zu stehen.

Dem Amnesiekranken wird geholfen. Der Mann ohne Gedächtnis scheint jedoch Dreck am Stecken zu haben und so wird unsere Sucheinheit in die Sümpfe krimineller Machenschaften geführt, wo eine mysteriöse Floppy Disc und eine vollbusige Gattin für Furore sorgen.

Amateur gestaltet sich als mitreissender, kühler und irgendwie europäischer Independent-Thriller. Nichts mit Rumgeballere, aber viel mit Charakter und gerne auch einer Prise Humor. Wer Isabelle Huppert kennt und wer sie davor nicht gekannt hat, wird sie als berückende Heldin, als kleine Amateurin verehren.


THE BOOK OF LIFE
Am Vorabend der Jahrtausendwende kehren Jesus als junger Geschäftsmann und seine sexy Assistentin Magdalena (P.J. Harvey) über New Yorks Flughafen zurück zur Erde. Von seinem zornigen Vater gesandt, soll Jesus die sieben Siegel vom Buch des Lebens brechen und das Ende der Welt einleiten. Sobald sie einen Laptop aus einem Schliessfach holen, können ein paar Klicks die Prophezeiung verwirklichen und Armageddon auslösen. Als Jesus jedoch die Menschheit in ihrer ganzen Komplexität sieht, überfallen ihn Zweifel. Unterdessen sitzt Satan in einer Bar und versucht, ein paar Seelen auf seine Seite zu verführen, bevor die Menschheit ausradiert wird…

The Book of Life wurde als Beitrag zur französischen Serie «2000 vu par…» eingereicht, in der sich einstündige Fernsehfilme mit dem Milleniumswechsel befassten. Zu diesem Zeitpunkt perfektionierte Hal Hartley seine impressionistische Verzerrungstechnik in The Book of Life und verleiht der dystopischen Geschichte einen auffällig technoiden Look, der sich gekonnt mit abstrakten Klängen verwebt und den Ereignissen ein vertrautes, um zugleich transzendentales Gefühl zu verleihen. «Eine böse, gekonnt gemachte und überaus weise schwarze Komödie" Austin Chronicle


TRUST
Als Maria von der Highschool fliegt, pumpt sie ihren sonst schon aufgebrachten Vater auch noch um Geld an. Dass sie von ihrem Freund Anthony schwanger ist, der abgesehen von Football und später für Daddy arbeiten, nicht viel im Kopf hat, bringt das Fass zum Überlaufen: Der Vater fällt um und stirbt an einem Herzinfarkt. Die Mutter, die ihrerseits nur geheiratet hat, um nicht arbeiten zu müssen, schmeisst ihre Tochter kurzerhand aus dem Haus. Und Anthony sucht schnell das Weite.

In der Zwischenzeit schmeisst Matthew, ein gebildeter, viel belesener Einzelgänger, seinen Job in einer Computerfirma aus Frust über die laue Produktqualität und aus geistiger Unterforderung hin. Er ist schon über dreissig und wohnt bei seinem Vater, der ihn ständig zum Putzen nötigt, obwohl er schon mehrmals sauber gemacht hat. Deprimiert über die Oberflächlichkeit der Gesellschaft und ihrem sinnlosen Streben nach materiellen Werten, streunt er durch die Strassen und trifft dabei auf die ebenso verlorene Maria. Trotz der offensichtlichen Unterschiede verbindet sie eine unbegreifliche Seelenverwandtschaft und sie beide fassen eine Beziehung als Chance ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen.

Hal Hartleys zweiter Film ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, fernab vom üblichen Kitsch, serviert mit einem unterschwelligen, teils zynischem, trockenen Humor. Trotz mancher Absurditäten nimmt er seine Aussenseiter und die eigentlich zum Scheitern verurteilte Beziehung ernst und gibt sie nie der Lächerlichkeit preis. Im Gegenteil: Lächerlich erscheinen im Vergleich alle Anderen, die ihren vorbedachten Platz in der Gesellschaft einzunehmen versuchen, in der Hoffnung so das Glück zu finden. Hartley nimmt dabei mehrere Themen aufs Korn, die uns auch heute noch alle betreffen: die Familie, die Arbeit, die Einsamkeit oder die Hoffnung, aber auch konkrete Dinge, wie Abtreibung und sexuelle Belästigung.

Nicht zuletzt geht es um die Liebe, die aber Nichts mit der Darstellung von Liebe in Hollywood-Filmen gemein hat und ebensowenig mit der amerikanischen Traumfabrik, sondern als das Zusammenspiel von Respekt, Bewunderung und Vertrauen definiert wird.


SIMPLE MEN
“It’s a romance with an attitude problem.“ – so beschrieb Regisseur Hal Hartley seinen Film über zwei ungleiche und doch gleichsam verlorene Brüder auf der Suche nach ihrem kriminellen Vater. Seinen Fussstapfen folgend, wird der ältere Bruder Bill während einem von ihm geplanten Überfall von seiner grossen Liebe verlassen. Der jüngere Dennis leidet seit jeher an der fehlenden Vaterfigur. In Long Island, wo sie ihren aus dem Gefängnis entflohenen Vater zu finden hoffen, treffen die beiden Trübsale in einem abgelegenen Imbiss auf zwei mysteriöse Frauen. Bald stellt sich heraus, dass diese mehr wissen, als sie zu Beginn vorgeben.

Simple Men ist sowohl ein Abgesang auf die Männlichkeit, als auch ein subtiles Porträt eines Landes jenseits des amerikanischen Traums. Hal Harley konfrontiert jedoch nicht mit einem rohen filmischen Realismus, sondern greift verspielt zu Formen der Verfremdung und Stilisierung, die nicht zuletzt an das Kino des jungen Jean Luc Godard erinnern.


HENRY FOOL
Simon Grim ist ein wortkarger Müllmann, der mit seiner tablettensüchtigen Mutter und seiner offenherzigen Schwester ein leeres Dasein fristet. Die Ruhe dieses Haushalts wird jäh durch den Freigeist und Dichter Henry Fool gestört, der in den Keller des Hauses einzieht. Henrys einzige Besitztümer sind seine vollgeschrieben Hefte – ein Geständnis, für das die Welt noch nicht bereit sei. Beeindruckt und angespornt von Henrys Freigeist beginnt nun auch Simon aus dem grauen Alltag auszubrechen und sein Leben der Poesie zu verschreiben. Während Simon folglich seinen Job an den Nagel hängt und mit Henrys Hilfe gar erste Gedichte veröffentlicht, wirbelt der mysteriöse Neuankömmling derweil auch den Rest der Familie gehörig durcheinander.

Henry Fool gilt als Hal Hartleys kommerziell sowie artistisch erfolgreichster Film und gewann am Festival von Cannes 1998 den Preis für das beste Drehbuch. Hartley schafft es jedoch auch in diesem Film seinem unverkennbaren Stil und dem bereits in den frühen 90ern geschaffenen (Figuren-)Universum treu zu bleiben. Exemplarisch lässt sich dies an der Rolle von Martin Donovan als Henry Fool – einem üblichen Verdächtigen in Hartleys Filmen – aufzeigen: Denn so wunderbar einzigartig die Figuren in ihrer weltfremden und doch gleichzeitig menschlichen Art auch erscheinen mögen, so handelt es sich auch immer um Stereotypen, die in Hartleys Oeuvre immer wieder auftauchen. In Donovan als Henry Fool scheint nun der ziellose Außenseiter und frei denkende Phrasendrescher aus Trust oder The Unbelievable Truth augenzwinkernd auf die Spitz getrieben. Dieser Hang zum Extremen zeigt sich jedoch nicht nur auf der Ebene der Figuren, sondern zieht sich durch den ganzen Film: Harley spielt sowohl inhaltlich als auch stilistisch mit den Erwartungen des Publikums. Der in anderen Filmen meist eher reduzierte Handlungsstrang ist hier verworren, gar ereignisreich, wobei die altbekannte Mischung aus Absurditäten vs. akademisches Schwadronieren noch einmal stärker aneinandergeraten. Serviert wird dieses Spektrum schliesslich wie immer mit viel trockenem, schwarzem Humor und ist - in Henrys Worten - genauso radikal, wie wahre Kunst eben sein muss, um bedeutungsvoll zu sein.


FLIRT
«Ich möchte, dass du mir sagst, ob wir eine gemeinsame Zukunft haben.» Eine schwierige Frage? Für Bill, Dwight und Miho ist sie definitiv nicht einfach. Sie sind sich unsicher und weigern sich gegen eine genaue Definition ihrer Beziehung. Aber von ihnen wird ein klares ‘ja’ oder ‘nein’ verlangt und Zeit haben sie dafür nur 90 Minuten. Dann steigt ihr Gegenüber in ein Flugzeug und fliegt zurück zu einer alten Liebe. Geschürt werden ihre Zweifel noch vielmehr dadurch, dass sie alle vor kurzem einen kribbelnden Flirt mit einer anderen Person hatten. Was wenn eine Beziehung mit dieser anderen Person viel erfüllender wäre? Also rufen sie lieber kurz dort an und fordern: «Ich möchte, dass du mir sagst, ob wir eine gemeinsame Zukunft haben.»

Bill, Dwight und Miho. Es ist dreimal dieselbe Geschichte an drei unterschiedlichen Orten: New York, Berlin und Tokyo. Die Ausgangslage, das Hadern, ja sogar der Dialog ist identisch – was sich ändert sind die Charakterzüge und damit das Temperament der Auseinandersetzungen. Hal Hartley gelingt mit FLIRT ein ergreifender und sensibler Einblick in das glückliche und manchmal zerreissende Gefühl des Verliebtseins. 


The Unbelievable Truth Hal Hartley, USA 1989


Trust Hal Hartley, GB/USA 1990


Surviving Desire Hal Hartley, USA 1992


Simple Men Hal Hartley, IT/GB/USA 1992


Amateur Hal Hartley, FR/USA/GB 1994


Flirt Hal Hartley, USA/DE/JP 1995


Henry Fool Hal Hartley, GB/USA 1997


The Book of Life Hal Hartley, FR/USA 1997


The Girl from  Monday Hal Hartley, USA 2005


Fay Grim Hal Hartley, USA/DE/FR 2006 


Ned Rifle Hal Hartley, USA 2014


Hal Hartley Überraschungsfilm


using allyou.net